Die Tür mit dem eisernen Riegel

Kurze Texte & Anthologien

Was für zwischendurch

Die Tür mit dem eisernen Riegel

 

 


Diese Tür öffnet sich fast jeden Tag für mich. Sie  öffnet sich

mit einem Ächzen und Knirschen, der eiserne Riegel

klappert. Dahinter warten Stunden harter Arbeit und

gleichzeitig Stunden großer Freiheit.  Es warten Freude,

Stolz und Lachen und es warten Schmerzen, Enttäuschung

und Tränen. Wenn ich hindurchgehe, kann ich nie sicher

sein, was an diesem Tag an der Reihe ist und mit welchen

Gefühlen ich nachher wieder durch diese Tür hinausgehe

in mein anderes Leben.


Hinter dieser Tür liegt das ewige Eis, weiß, glitzernd, diesen einmaligen Duft nach Kälte verströmend, unberührt, glatt, makellos zunächst und dann zerschrammt und zerschunden, zerschnitten von unzähligen Linien, die sich wie ein hoffnungslos verwirrtes Netz darüber legen, durchsetzt sogar von Löchern, aus denen Eisbrocken herausgebrochen sind. Wenn du versuchst, diesem Netzwerk mit den Augen zu folgen, wirst du dich darin verlieren wie im Gewirr des Metroplans von Tokio.


Die meisten Tage hinter der Tür sind nicht sehr glamourös. Das Licht ist nicht so hell, die Musik klingt scheppernd durch die Anlage und manchmal wiederhole ich ein Element gefühlt hundertmal. Ein Anlauf, einhaken, abheben, drehen, landen oder auch fallen, weiter. Eine Pirouette drehen, meinen Körper verbiegen, das Bein in den Spagat im Stehen hochziehen. Eine Bewegung bis in die Fingerspitzen zu Ende führen, im Takt der Musik, den Rhythmus finden und eins werden mit dem Klang, wieder und wieder und wieder, bis jedes Detail sitzt.


Aber an manchen Tagen ist alles anders. Dann leuchtet das

Eis im strahlenden Licht und ich stehe allein in der Mitte der

Fläche, aller Augen ruhen auf mir. Das Scheinwerferlicht

bricht sich in den Pailletten auf meinem Kleid und sie glitzern

bei jeder Bewegung. In diesen Sekunden, in denen ich meine

Position einnehme und auf den ersten Takt der Musik warte,

schlägt mein Herz vor Aufregung bis zum Halse. Mein Mund

ist staubtrocken und ich wünsche mir, ganz weit weg zu sein.

Ich fixiere einen Punkt an der Bande, ohne wirklich zu sehen,

was dort ist. Ein Buchstabe in einer Werbeaufschrift vielleicht.

Doch mit dem ersten Ton der Musik werde ich ruhig, das

Muskelgedächtnis übernimmt. Es ist soweit, ich kann nichts

mehr ändern.


Ich bin Eiskunstläuferin. Und wenn ich durch diese Tür gehe, kann ich fliegen.


November 2015


Diesen Text habe ich für den literarischen Adventskalender von Constanze Budde verfaßt. Bei diesem Projekt ging es darum, eine geschlossene und eine offene Tür zu photographieren und dazu eine Geschichte, einen Text oder ein Gedicht zu schreiben.

www.tatjanaflade.de